Ein abstraktes Theater von Arnim Bautz
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Vorwort
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Die digitale Welt "Ich bin optimistisch, dass mit der kommenden Technologie, mit der die ganze Welt künstlich zu rekonstruieren sein wird, das erste wahre Kino am Horizont erscheinen wird." 1) Dies bezieht Peter Greenaway auf seine Behauptung, dass es bisher noch gar keinen Film sondern lediglich abgefilmtes Theater gäbe. So radikal diese Behauptung auch ist, verdeutlicht sie doch, dass Film mit der Realität nun wirklich nichts zu tun hat, sondern eigene Realität schafft. Früher flüchtete der Zuschauer vor einem fahrenden Zug aus dem Kino, heute konsumiert er Kriegsereignisse als Abendbrotbeilage. Der Zuschauer ist also nicht mehr Beteiligter des Geschehens. Er hat eine Rezipientenfunktion übernommen, ähnlich der eines Theaterbesuchers. Er kann Bild und Abbild klar unterscheiden und diesen verschiedene Prioritäten zuordnen. Mit dem Fortschritt der technischen Revolution tritt auch hier die gleiche Entwicklung ein. Die Technik erreicht immer größere Distanz zur Realität (die ersten Werkzeuge konnten noch klar der Natur zugeordnet werden, ein Computer hat keine Entsprechung in der Natur). Daraus entsteht Ablehnung als auch Faszination. Die Polarität der Technik zur Natur wächst. Die Qualität der Natur wird über die Auseinandersetzung mit der Technik bewusster. Der Versuch, Realität in Computern nachzustellen, dient also nicht seinem scheinbarem Ziel, sondern eher der Schaffung eines umfassenderen Bewusstseins für die natürlichen Vorgänge. Die wesentlichen Entdeckungen werden folglich außerhalb des Naturraumes stattfinden. Es entwickelt sich die virtuelle Welt. In ihr wird versucht, der Natur nicht mehr die Rohstoffe zu entziehen um zu überleben, sondern das Wissen - um zu überleben. |
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Der Theaterbetrieb Der Theaterbetrieb ist sehr an seine Konventionen gebunden. Moderne Einflüsse können so nur begrenzt umgesetzt werden. Der interdisziplinäre Ansatz des Theaters an sich wird durch seine komplexe Struktur ausgebremst. Alle Sparten arbeiten in der Regel getrennt voneinander. Lediglich der Regisseur versucht ernsthaft, alle Genres ohne Wertung zu einem Gesamtkunstwerk zu führen. Da die Produktionszeit und die finanziellen Mittel begrenzt sind, ist jede Neuinszenierung erst wenige Tage vor der Premiere in seiner ganzen Komplexität zu sehen und zu hören. Jede Premiere ist für die Beteiligten mit enormem finanziellem Risiko und einer unsäglichen Anspannung verbunden. Günstige Voraussetzungen für eine gelungene Produktion sind unter anderem ein erfahrener Regisseur, ein Haus, in welchem alle Sparten im Umgang miteinander langjährige Erfahrungen haben, und ein angemessenes Budget. All diese Vorraussetzungen sind z.B. bei einer Off-Produktion meistens nicht gegeben. Auch im konventionellem Theaterbetrieb kann die Sicherheit einer Inszenierung immer erst nach der Premiere beurteilt werden. Viele Neuinszenierungen verschwinden schon nach kurzer Zeit wieder vom Spielplan, in der Regel entscheiden dies die Produzenten selbst.
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Das virtuelle Theater Gib dem Regisseur ein Werkzeug, mit dem er ein virtuelles Theater gestalten kann, ein Theater, wo er direkten Zugriff auf die verschiedenen Sparten hat und diese in Abhängigkeit voneinander verändern kann! Ein Theater als Produktions- und Ideensimulation, das transportabel, kompatibel und preislich undiskutabel ist. Multimedia-Computer und die entsprechende Software bieten diese Möglichkeit. Stewart Brand: "Die beste Werkzeuge sind Werkzeuge, die sich anpassen, Werkzeuge, die wiederum Werkzeuge herstellen und sich so reproduzieren. Außerdem müssen unsere Maschinen uns in sich willkommen heißen, uns auf der Reise durch ihre Strukturen behilflich sein. Eine Welt voller Experimentatoren, die alle ausgerüstet sind mit solchen Werkzeugen, können im Hinblick auf die technologische Zukunft jederzeit das Richtige tun: bessere Werkzeuge erfinden." 2) Ob Sprache, Musik, Bühnenbild, bewegte Darsteller oder Licht - alles ist simulierbar. Das Ziel ist nicht, ein konkretes Abbild der Inszenierung zu schaffen, sondern die Wechselwirkungen der Gestaltungsmittel effizient zu erproben. Das Ergebnis solch einer Vorproduktion soll jeder Sparte einen Einblick in die gesamte Produktion ermöglichen. Bisher geschah dies vorwiegend mit Worten. Da die Worte subjektiv verschieden interpretiert werden, und es so zu Missverständnissen kommt, kann ein weiteres Ausdrucksmittel diese Missverständnisse reduzieren. Das Wort und alle anderen bisher erprobten Gestaltungsmittel wie Entwürfe, Ideenskizzen, Skripte, Proben u. s. w. haben weiterhin Bestand. Die konventionellen Mittel sind die Vorlage für das virtuelle Theater. Diese Möglichkeiten haben mich bewogen ein neues Konzept für die Planung und Aufführung von Theaterstücken zu erarbeiten. Jede Inszenierung hat bei der Wahl der Ausdrucksmittel ihre eigenen Schwerpunkte, die den Einsatz der technischen Hilfsmittel bestimmen. An Hand des folgenden Beispieles können so nur begrenzt die Möglichkeiten des virtuellen Theaters verdeutlicht werden.
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Die Vorgeschichte 1987 gründete ich das Multimediatheater NEW AFFAIRE . Das Ensemble bestand aus 5 Tänzerinnen und Tänzern, 4 Musikern und 12 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. 30 min. 35 mm Film, 200 DIA´s Multivision, bühnengroße Kostüme, eine digitale Musikproduktion und eine große Spezialbühne für 3-Dimensionale Projektion und magische Effekte waren in ein Nummernprogramm ähnlich der Abfolge von Videoclips integriert. Dr. Erhard Ertel: "Schnell sind die Filmsequenzen aus Fritz Langs Metropolis zu identifizieren, da zitieren die mit riesigen geometrischen Gebilden agierenden Tänzer Oskar Schlemmers Bauhauserfahrungen, da sind die Expressivität von Ausdruckstanz und Modern Dance unschwer erkennbar, da zeigt sich die Brauchbarkeit der Erfahrung des schwarzen Theaters, da erinnert raffinierte Lichttechnik an Effekte der Lichtgestaltung bei Appia und Craig. Old fashioned New Affaire? Mitnichten. Fast alles, was sich gegenwärtig in "innovativer" Medienästhetik neu gebärdet, ließe sich in der Kunstgeschichte der Moderne festschreiben. " 3) 16 Gastspiele der New Affaire magic show ermöglichten es, das Theater selbst zu finanzieren. 1989 produzierte New Affaire im Auftrage des Theaters im Palast das Tanztheaterstück "Tanzmonologe". 1990 gründeten wir den Allsinnlichen Tanzhilfe e.V., welcher die interdisziplinären Ansätze ausarbeitete und eine neue Produktion vorbereitete. 1993 entstand aus dieser Arbeit die erste Inszenierung von "love in space". Verschiedene Kulturmagazine berichteten von den Proben. Ticket: "High Tech total. Mit großem Multimedia-Einsatz probt die Magic Wings Produktion in Potsdam für eine Reise in die Zukunft. Parallelen zu Science Fictions wie Newromancer sind garantiert nicht zufällig. Dieses skurille Tanzmärchen sieht die Zukunft allerdings in Poesie und Gefühl. Make love in space." ab jetzt: "Ein internationales Tanzprojekt in dem die Grenzen zwischen den Kunstsparten aufgehoben werden. ... Vor allem aber soll der Gegensatz zwischen dem märchenhaftem Fantasieland und unserer rationalen Computerwelt verschwinden. Das Märchen über Trickfiguren, Zauberer und Softwareschlangen ist ein tänzerisches Gesamtkunstwerk aus der Grenzregion zwischen Traum und Wirklichkeit." Tip TV: "Nicoletta Pigato aus Italien und Julio Bonatti aus Uruguay sind neu in der Truppe und geben ihr Bestes, auch wenn sie bei den Proben kaum zum tanzen kommen. Die raffinierte Bühnentechnik mit Filmeinblendungen und DIA-Projektionen fordert ihren Tribut - das Chaos." Mit dieser Inszenierung traten dann die unter dem Absatz "Der Theaterbetrieb" geschilderten Problematiken massiv in den Vordergrund und ich entschloss mich zu einer Neuproduktion des Stückes.
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Szenenbild aus der NEW AFFAIRE magic show, 1988 |
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Die Aufführungen Im Oktober 1994 wurde die inzwischen völlig neue einstündige Produktion im Potsdamer Lindenpark dann erfolgreich uraufgeführt. Es folgten 2 weitere Aufführungen im Lindenpark und ein Gastspiel mit 3 Vorstellungen im Gladhouse Cottbus.
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Das Ensemble Tanz: Susanne Effenberger Ahrndt, Marlies Fangmann, Séverine Zuffery Regie, Choreographie, Musik, Bühnenbild, Film: Arnim Bautz Technische Leitung der Aufführungen: Renee Rudolph Kostüme: Gina Heyn Akustik: Bo Kondren Kamera für die Dokumentation: Claudia Menge Bühnenbau: Axel Häusler, Hans Höpfner Produktion: Gina Heyn, Arnim Bautz, New Affaire Förderer: Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur Brandenburg, Allsinnliche Tanzhilfe e.V.
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Bo Kondren, Renee Rudolph, Arnim Bautz, Gina Heyn, Axel Häusler, Marlis Fangmann, Claudia Menge, Susanne Effenberger Ahrndt, Séverine Zuffery, Potsdam, 1995 |
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Die Story Auf der nördlichen Hemisphäre schmelzen Gletscher zu Meeren. Sie vermögen nicht Nordsee und Ostsee zu vereinen. Nur eine kleine Verbindung entsteht. Skagerrak. Dort wo die Wellen zweier Meere aufeinander treffen sind drei Abenteurer auf der Suche nach verlorenen Spielen. In einer Metamorphose von Farbe, Form, Bewegung und Musik erkunden die Abenteurer die Elemente. Wulf Herzogenrath : "Was ist Kunst, und was ist Leben, wo ist Wirklichkeit und wo Illusion? Hat (das z.B. politische Leben) im 20. Jahrhundert nicht viel weniger mit der Wirklichkeit des Leben zu tun als die Illusion der Kunst- der Worte, der Töne, der Bilder? Der tägliche Umgang mit dem, was als unser Leben ausgegeben wird, lässt uns (fast) nur die Hoffnung auf die Illusion." 7)
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Szenenbild aus Magic Wings "love in space" |
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Das Ziel Wulf Herzogenrath: "Wassily Kandinsky, Mitbegründer der ungegenständlichen Malerei, hat am Theater die Möglichkeit der Synthese der verschiedenen Künste zum Gesamtkunstwerk fasziniert. ... Kandinskys künstlerisches Empfinden und damit auch seine Einstellung zum Theater hängen mit der ihm eigenen synästhetischen Fähigkeit zusammen, bestimmte Farbtöne in Verbindung mit musikalischen Klängen zu erleben." 8) Farbe, Form, Bewegung und Musik sollen zu einem einzigen Ausdrucksmittel, einem abstraktem Theater morphen.
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Das Bühnenbild Die Zuschauer blicken von Tribünen in den Schauplatz einer runden geschlossenen Arena . Die Arena ist wie ein Kino komplett verdunkelt und wird nur durch sich bewegende Lichtpunkte definiert. Es entsteht eine Art Sternenzelt, in welchem die Raumgröße nicht mehr wahrnehmbar ist. Der kreisförmige Boden der Arena dient als Projektionsfläche. Die Tiefe der Arena ist für den Betrachter nicht mehr definierbar. Je nach Einsatz der Projektion scheint der Bühnenboden verschiedene Höhen und mehrere Ebenen zu haben. In diesem scheinbarem 3-dimensionalem Raum agieren die Tänzer. Die Projektionsquelle ist für den Betrachter nicht zu erkennen. Nach der Aufführung konnte ich Zuschauer beobachten, die den Tanzboden untersuchten dort aber keine Lichtquelle, keinen doppelten Boden, lediglich einen linoleumähnlichen Belag vorfanden. Eben eine Illusion. Das Projektionssystem wurde eigens für diese Inszenierung entwickelt und gebaut. Die Projektionen sind im Computer erzeugte abstrakte Bilder und Filmsequenzen. Die Bildfolgen und Überlagerungen assoziieren neue Bilder, welche real nicht vorhanden sind. Grafische Muster werden durch Bewegungssimulationen aus der Tierwelt zu zeichentrickartigen Fantasiefiguren welche sich in irrealen Landschaften auflösen. Alles in allem eine Transformation von Farbe, Form und Bewegung.
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Projektion aus Magic Wings "love in space" |
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Die Kostüme Die Grundidee für die Kostüme liegt in der Erfahrung der Wechselwirkung von Licht und Tanzbewegung. Alle drei Tänzerinnen sind uniformiert. Ihre Körper sind unter einer zerbrochenen Glasoberfläche verborgen. Die Reflexionen des Glases beschreiben die Tanzbewegungen. Tanz wird in Licht transformiert und verbindet sich so mit der Ästhetik der Bilder ohne, dass die Tänzer Projektionsfläche für die Bilder werden. Die Fertigung der Kostüme erforderte mehrmonatige Arbeit und den Bau einer Spezialmaschine.
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Kostüme aus Magic Wings "love in space" |
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Die Choreographie Drei Figuren sind normalerweise das Ausgangsmaterial für komplexe Polaritäten. Nicht so bei Magic Wings. Hier verbinden sich drei Körper zu einem Individuum. Mechanisch greifen die Körper ineinander und verbinden sich zu abstrahierten Uhrwerken, Fahrrädern oder organischen Strukturen. Die Aufsicht der Zuschauer ergibt sich eine Art Wasserballettchoreographie. Nur selten werden die möglichen Kombinationen der Zahl 3 ausgespielt. Daraus resultiert dann eine Gruppe aus zwei Tänzerinnen und einer Solotänzerin oder die Struktur des dreigeteilten Körpers löst sich durch polyrhythmische Musik in drei Solopartien auf. Die Tänzerinnen sind einerseits Auslöser von Bühnenbildern andererseits werden sie auch von ihrer Umwelt überrascht und müssen sich in neuen Bilderwelten zurechtfinden. Puppenhaft integrieren sich die Tänzerinnen in die Traumbilder. Bühnenbild und Tanz gehen aufeinander ein ohne dieses Systems plakativ vorzuführen. Oft erwies sich das konventionelle Nebeneinander beider Mittel als hilfreicher für den Gesamteindruck.
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Szenenbild aus Magic Wings "love in space" |
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Die Musik Klaus-Ernst Behne, Musikpsychologe: "Die Wirkungen der Musik beim Menschen sind in der Regel kulturell und kognitiv überformt. " 9) Um dieser Wirkung gerecht zu werden und um die Zeitachse des Geschehens nicht absolut in die Zukunft zu führen wurden Stilmittel der 30-er Jahre benutzt. Die Melodie basierenden Instrumental-Kompositionen schaffen eine Brücke für den Zuschauer zu den abstrakten Bildern. Das Titelthema signalisiert die dramaturgischen Schwerpunkte. Dazwischen wandert die Musikstilistik unmerklich zwischen den Zeiten. Ob Rhythmen afrikanischen Ursprungs, Polyrhythmik, 4/4-tel Beat oder Walzer ... weniger die stilistische Reinheit als eher das szenische Bedürfnis steht im Vordergrund. Zur Musik kommt die Geräuschebene, welche den Bildern Ortungshilfe und den Tanzbewegungen Synchronpunkte bietet. Für die Aufführungen wurde von einem Akustiker hochwertigste Beschallungstechnik konzipiert, um den Sound eines 60 Jahre alten Orchesters in die heutige Zeit zu transponieren.
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Die Regie des virtuellen Theaters Aus den Erfahrungen mit dem Verbund von Technik und Kunst entwickelte sich das Konzept für ein virtuelles Theater. Schwerpunkt dieses Theaters ist das optimale Vorbereiten einer Inszenierung. Die Aufführungen an sich finden in traditionellen Räumen statt. Bei dieser Inszenierung sind die musikalischen Grundideen Basis des Stückes. Die Musikthemen sind speziell für die Inszenierung auf eine CD gebrannt. Jedes Thema entspricht einer Szene. An den Timecode (Zeitkodierung) der Musik sind im Rechner mit Macromedia Director (Software für Bildanimation) die Bilder und Filme angeordnet. Diese Bühnenbilder können jederzeit ausgewechselt oder verändert werden. Der Regisseur kann über ein Menü die Szenen und die einzelnen Bilder der Szenen ansteuern. Parallel zur Entwicklung der Bühnenbilder wurde die Choreographie ausgearbeitet. Die konventionellen Skizzen auf Papier sind auf virtuelle Darsteller im Rechner übertragen und mit Life Forms (Software für Choreographen) animiert. Die Wechselwirkungen von Tanz, Musik und bewegtem Bühnenbild können so schon in der Vorbereitungsphase erprobt werden. Änderungen jedes Mittels sind unaufwendig da lediglich Daten und nicht Bühnendekorationen transportiert werden müssen. Gerade in der Abstimmung von Film und Tanz bedeutet dies ganz neue Möglichkeiten. Die Gleichzeitigkeit von digitalen Ereignissen ermöglicht einen neuen Umgang mit der Technik. So wie der Dirigent das Orchester an jeder Stelle der Partitur einsetzen lassen kann, kann der Regisseur Bühnenbild und Musik starten, stoppen und korrigieren. Dies ist mit analoger Technik (Film- und Videoprojektoren, Tonbandgeräten), wo Umspulzeiten das Probentempo bestimmen und die Bild- und Toninhalte nicht mehr veränderbar sind, überhaupt nicht möglich. Schon vor der ersten Probe können die Tänzerinnen die choreographischen Ideen und Bühnenbilder synchron zur Musik sehen. Während der Tanzproben kann unaufwendig das Bühnenbild, die Reihenfolge der Bilder oder ganzer Szenen geändert werden. Erstaunlich zuverlässig erwies sich das System im Live-Betrieb. Das während der Aufführungen zur Sicherheit mitlaufende Videoband musste nicht eingesetzt werden.
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Szenenbild aus Magic Wings "love in space" |
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Bühne im Film Die Dokumentation von Bühnenstücken ist sehr problematisch. Die Atmosphäre eines Theaters kann nur begrenzt auf Film übertragen werden. Die Dramaturgie bei Bühne und Film geschieht unter völlig anderen Gesichtspunkten. Das Umsetzen dreidimensionaler Tanzbewegungen in eine zweidimensionale Wiedergabe durch den Film bedarf genauer Regieanweisungen und ausgeklügelter Kameraeinstellungen. Wenn - wie in diesem Fall - der Choreograph auch Regisseur des Filmes ist, muss er sich von der Sichtweise des Choreographen lösen und die filmischen Aspekte in den Vordergrund stellen. Die unbewegte Totale, für die mühevoll inszeniert wurde und auf welche die gesamte Choreographie aufbaut ist, ist im Film nur eine von vielen Kameraeinstellungsmöglichkeiten. Die Bewegungsrichtungen der Tänzer ändern sich durch die Kameraeinstellung und ergeben so nicht mehr den ursprünglichen Sinn. Die auf die Totale abgestimmte Dramaturgie wirkt in der Filmtotalen undynamisch. Die neu entstehenden Bilder bekommen ein Eigenleben. Mit diesen Bildern muss dann der Charakter der Inszenierung wiederhergestellt werden.
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Der Dreh Zusammen mit der Kamerafrau wurden deshalb schon während der Tanzproben Kameraeinstellungen festgelegt. Alle Aufführungen wurden aus verschiedenen Kamerapositionen mitgeschnitten. Nach jeder Aufführung wurde das Material gesichtet und das Drehbuch weiter erarbeitet. Zusätzlich gab es im Glad House drei Drehtage, an denen komplizierte Kameraeinstellungen (Handkamera, Großaufnahmen, Totale von Oben, Kamerafahrten) abgedreht wurden.
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Die Produktion Titel: SPIL Da der Einsatz von Projektion nur wenig Spielraum für die Belichtungszeit zulässt und ein Probedreh nicht möglich war wurde mit Video gedreht. Die Projektion war selbst für die lichtempfindlichste Kamera noch zu dunkel. Um größere Belichtungszeiten zu erreichen, wurden alle Einstellungen mit der vierfachen Belichtungszeit, also mit nur 6,25 Bildern pro Sekunde (die PAL Norm sind 25 Bilder je Sekunde), gedreht. Der Nachteil dieser Aufnahmetechnik ist, dass der Film sehr ruckelnd wirkt, wie in der Zeit, als die Bilder laufen lernten. Erst wenn mehr als 24 Bilder in der Sekunde ablaufen, werden Bewegungen flüssig. Um dieses zu ereichen, wurden nachträglich die fehlenden Zwischenbilder mittels eines extra für diese Produktion entworfenen Verfahrens im Computer errechnet. Die so entstandene Filmästhetik zwischen Fotografie und Film kommt der abstrakten Inszenierung sehr zu gute. Dem voraus gingen eine lange Planung und etliche Versuchsreihen, da hier nicht das technisch Machbare demonstriert werden sollte, sondern zielgerichtet ein künstlerisches Ausdrucksmittel abgestimmt werden musste.
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Der Schnitt Die Umformung von Inszenierung zu Video erforderte mehrere Schnittversuche. Zehn Stunden Rohmaterial sollten zu wenigen Minuten zusammengefasst werden, ohne den Zauber der Inszenierung zu verlieren. Kameraeinstellungen von 2 bis 30 Sekunden erzwangen eine Dramaturgie abseits der Schnittästhetik von Musikvideos. Um die Filme im Computer schneiden zu können, wurden für die Vorproduktion des Videoschnittes alle Filme in niedriger Auflösung digitalisiert und auf eine CD-ROM gebrannt. Der wesentliche Schnitt konnte so ohne Produktionskosten auf einem Personal-Computer erfolgen. Dieser Schnitt wurde dann in einem softwareübergreifenden Projekt (Adobe Premiere und AVID) endgefertigt.
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Die Filmmusik Da die Musik der Inszenierung nicht mit der Filmästhetik harmonierte und die Bilder hier absolute Priorität besitzen wurde für das Video ein neuer Titel komponiert und das gesamte Video nach vertont. Die Sounds basieren auf menschlichen Lauten und sind zu Instrumenten umgeformt. Das Tempus von 93,75 bpm (4/4-tel je Minute) entspricht in Achteln der originalen Filmaufnahmegeschwindigkeit (6,25 Bilder je Sekunde). Es wurde sehr minimal arrangiert und direkt auf Tänzer-, Bühnenbild- und Kamerabewegungen komponiert. Töne und Rhythmen übernehmen zusätzlich die Funktion des Geräuschemachers. Auch hier erwies sich die Arbeit mit dem Rechner und neuer Software (Steinberg Cubase), welche MIDI und Film verbindet, als innovativ. MIDI ist ein Standard, welcher u. a. elektronische Musikinstrumente ansteuert, die Notation erfolgt im Computer, der auch den Film mit der Musik synchronisiert.
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Schlussbemerkung Schöne neue digitale Welt? Ganz und gar nicht. Die Komplexität des Systems droht dieses zu ersticken. Die Möglichkeiten sind zu vielfältig, und es gibt zu viele Wege, um ein Problem zu lösen. In diesem Sinne müssen in jeder Produktion Schwerpunkte gesetzt werden. Bewusst wurde so bei Magic Wings z.B. auf Live-Interaktion verzichtet. Auch die Musik sollte natürlich nicht als Konserve aus dem Rechner kommen, sondern der Rechner könnte wie ein Orchester live spielen. Das Choreographieprogramm erwies sich als zu flügellahm für eine komplette Inszenierung . Um eine Bewegungsfolge dreier Tänzer umzusetzen, bedarf es ca. der 10 fachen Zeit einer realen Tanzprobe. Jedoch ist die Arbeit am Rechner wenig kommunikativ. Jede Stunde der Tanzproben ist ein Genuss im Vergleich zur Animation virtueller Darsteller. Nur langfristig kann hier ein System entwickelt werden, welches wirklich interdisziplinär alle Sparten des Theaters verbindet. Trotzdem ist das virtuelle Theater schon heute ein effektives und wirklich neu belebendes Werkzeug.
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Szenenbild aus Magic Wings "love in space" |
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Quellennachweis 1) Greenaway, Peter: Die neuen Medien, Regie Michael Schulze, Redaktion Rainer Michael Schaper, Leitung Ebbo Demant, Produktion Südwestfunk 19952) 2) Brand, Stewart: Medialab, S. 320, Reinbek, rororo, 1990 3) Ertel, Erhard: Journal für Unterhaltungskunst, Henschelverlag, Ausgabe 1/1989, www.multimediatheater.de/ 4) Ticket: Redaktion Ilona Schroth, Produktion Sender Freis Berlin, B1 24.10.1993 5) ab jetzt: Redaktion Gabriele Conrad, Regie Reinhard Schrade, Produktion Sanssouci Film, Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg 21.10.1993 6) Tip TV: Redaktion Lutz Ehrlich, Mitteldeutsche Rundfunk 22.10.1993, B1: 22.10.1993 7) Herzogenrath, Wulf: Videokunst in Deutschland 1963-1982 8) Herzogenrath, Wulf: Aufsatz: Mechanische Bühne und Lichtspiele - Ersatz für den absoluten Film?, Film als Film, Stuttgart, Hatje, 1980 9) Behne, Klaus-Ernst: Das Konzert der Verführer, Film von Horst Brandenburg, Produktion Südwestfunk, Arte, 1994
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Impressum Kontakt: info@new-affaire.com Copyright: Arnim Bautz, Berlin, 1995
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